Der Schrei der Elster - ein Mittelalterroman

Der Schrei der Elster

Man schreibt das Jahr 1632, und die Pest wütet in Europa. Während die Menschen in den Ballungszentren der großen Städte dahinsiechen, suchen Regierung, Kirche und Gesellschaft nach Schuldigen. Jeder, der sich von der Masse unterscheidet, gerät schnell in Verdacht und somit in Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu landen. Sogenannte Hexenprozesse zwingen unschuldige Menschen unter unerträglicher Folter, falsche Geständnisse abzulegen. Betroffen sind in erster Linie jene Frauen, deren einziges Vergehen darin besteht, sich mit Kräutern und Heilsalben auszukennen oder die Zukunft vorhersehen zu können. Es ist das Zeitalter der Inquisition, die über Jahrhunderte hinweg ihre blutigen Opfer fordern soll.

Die Heilerin Brunhilde gerät in den Verdacht der Hexerei und muss mit ihrer Tochter Maria aus der Stadt fliehen. Beim fahrenden Volk finden sie Unterschlupf, doch schon bald sollen sich Marias Albträume auf grauenhafte Weise erfüllen.

Leseprobe

Leseprobe aus dem Buch

Brunhilde wusste, dass es gefährlich war. Die kleine Behausung lag am Rande der Stadt, und vorsichtshalber hatte sie die Fenster verdunkelt, um das Flackern der vier weißen Kerzen zu verbergen. Eine Kerze für jede Himmelsrichtung. Die etwa dreißigjährige Frau war mit einem weißen Gewand bekleidet und trug ihr langes dunkles Haar offen. Langsam erhob sie die Arme und sagte mit leiser anklagender Stimme: „Oh Hel, schau, was mit deinen Töchtern geschieht. Deine Wiege wird ihnen zum Grab und dein Weg ein glühender Pfad voller Schmerzen. Ich flehe dich an, im Namen Freyas, erhöre meine Bitte, und gib mir eine Antwort.“

Die Kerzen flackerten stärker, und durch die undichte Tür wehte ein kalter Wind. Das kleine Mädchen neben ihr hielt eine Schale mit Wasser hoch über den Kopf und fröstelte in ihrem dünnen Kleid aus grobem Leinenstoff. Das Haar reichte ihr bis an die Hüften und hatte fast den gleichen Farbton wie das naturfarbene Leinenkleid. Eine Sache, die in den Augen der Nachbarn seltsam war. Wie kam die Frau mit den dunklen Locken zu einem so hellhäutigen und blonden Kind?

Maria war alles, was ihr geblieben war, nachdem ihr Mann vor zwei Jahren von der Pest dahingerafft wurde. Irgendwie schaffte es Brunhilde, sich und die Kleine durch Gelegenheitsarbeiten durchzubringen. Das Herstellen ihrer Heilsalben aus Kräuterextrakten war inzwischen zu einer gefährlichen Angelegenheit geworden, und sie verkaufte nur noch an Stammkunden. Doch selbst da konnte man sich nicht sicher sein, und lieber verzichtete sie bei einer zahlungsunfähigen Abnehmerin auf das Geld, als sich diese zum Feind zu machen.

„Mama, es klopft!“ Brunhilde wurde aus ihren Gedanken gerissen und blies geschwind die Kerzen aus. Maria wartete, bis ihre Mutter alles in einer großen Holztruhe verstaut hatte und ging dann langsam zur Tür. „Wieso verdunkelt Ihr denn so früh? Ich dachte schon, es sei niemand daheim.“ Eine gebeugte alte Frau kam herein, und Brunhilde atmete erleichtert auf.

„Wartet Mutter Brehm, ich zünde nur ein Licht an“, sagte sie und lächelte freundlich. „Was kann ich für Euch tun?“

Die alte Frau litt seit langem an heftigen Rückenschmerzen, und Brunhilde hatte da genau die richtige Salbe.

„Ich komme, um Euch zu warnen.“ Das hutzelige Mütterchen hob sorgenvoll den Kopf und schaute der Jüngeren in die Augen.

„Man ist nicht gut auf Euch zu sprechen im Ort. Manch einer behauptet gar, Ihr steht mit dem Teufel im Bunde.“

„Ihr wisst, dass dem nicht so ist. Ich versuche nur, den Menschen zu helfen und ihnen die Schmerzen zu nehmen. Ansonsten verrichte ich mein Tagwerk wie jeder andere hier auch. Ich besuche regelmäßig die Gottesdienste und lasse mir nichts zu Schulden kommen“, erwiderte Brunhilde mit ruhiger Stimme.

„Ja mein Kind, ich weiß. Wenn ich es nicht wüsste, käme ich nicht hierher, um Euch zu warnen. Ihr solltet die Stadt gleich morgen in der Früh verlassen. Sie richten schon neue Scheiterhaufen außerhalb der Stadtmauern. Gestern hat die Erna aus der Gruberstraße gestanden und unter der Folter Euren Namen genannt …“

„Habt Dank Mutter Brehm. So werden wir denn die Stadt verlassen müssen, unser kleines Haus und das Wenige, was wir besitzen. Es geht auch um das Leben meiner Tochter, nicht nur um meines. Was soll aus ihr werden, wenn sie mich in den Kerker werfen?“ Schützend legte Brunhilde den Arm um die Schultern des kleinen Mädchens, dessen Augen vor Schreck weit geöffnet waren.

Nachdem Mutter Brehm mit einem Tiegel Kräutersalbe die Hütte verlassen hatte, machten sich Brunhilde und Maria ans Packen. Viel war es nicht, was sie mitnehmen konnten, nur das Nötigste, verpackt in Leinenbeutel. Auch die große Truhe musste zurückbleiben, nachdem ihr die wichtigsten Utensilien entnommen worden waren.

Mit einem letzten Blick in den armseligen Raum, der ihnen dennoch so viele Jahre Heimat gewesen war, schlossen Mutter und Tochter im Morgengrauen die Tür hinter sich. Ein neuer Weg lag vor ihnen, niemand wusste, wohin er führen und wie er enden würde: Ihre Flucht hatte begonnen.

Die Stadttore, die nachts aus Sicherheitsgründen verschlossen wurden, waren bereits geöffnet, und die Land- und Feldarbeiter konnten ebenso passieren wie die Grubenarbeiter und die Händler mit ihren Karren. Brunhilde und Maria mischten sich unter das bunte Volk und gingen ungehindert an den Torwachen vorbei. Die kontrollierten eher jene, die in die Stadt hineinkamen. Beide atmeten auf, als sie die Stadtmauern hinter sich gelassen hatten, aber auch jetzt galt es, vorsichtig zu sein.

Der Vogel hatte seine Schwingen ausgebreitet und schwebte mehr als dass er flog. Schwarz wie Lack und weiß wie Schnee glänzte sein Gefieder in der Morgensonne.

„Tschiriiiiiiiiiiik“, klang es fast zärtlich. Maria streckte die Hand aus, und die Elster landete geschickt auf ihrer Schulter.

„Da bist du ja, Elsa“, sagte sie erfreut. Der Vogel legte seinen Kopf zur Seite und betrachtete Maria aufmerksam mit seinen schwarzen Augen. „Wo hast du nur gesteckt? Ich habe schon befürchtet, du würdest uns nicht wiederfinden!“

Ihre Mutter lächelte nachsichtig.

„Elsa würde uns überall finden. So hat Hel meine Bitte erhört und uns durch ihren Boten erneut ein Zeichen ihrer Verbundenheit und ihres Schutzes gegeben.“

„Ist Elsa ein Bote Hels?“ Maria war etwas verwundert, denn seit der Vogel vor ein paar Monaten entkräftet vor der Tür gelegen und sie ihn aufgepäppelt hatte, war er handzahm geworden und kehrte immer wieder zu dem kleinen Haus am Stadtrand zurück.

„Elstern gelten als Götterboten, aber sie verkünden auch Unheil und Tod, sagt man. Hel selbst wird von Elstern begleitet und ist auch bekannt als germanische Göttin des Todes und der Unterwelt.“

Das war unheimlich, und das Kind schauderte. Es schaute zweifelnd auf Elsa, die sich mit ihrem scharfen Schnabel an einem Knopf auf seinem Umhang zu schaffen machte.

Plötzlich gab der Vogel ein warnendes ,Schäck schäck’ von sich und erhob sich in die Luft.

„Da kommt jemand.“ Brunhilde trat hastig hinter eine Gruppe dichter Büsche und zog Maria mit sich. „Psssssssssst…“

Nach einer ganzen Weile hörten auch sie den Hufschlag: Ein paar Reiter passierten auf ihren Pferden den unbefestigten Weg und hüllten die Landschaft in eine dichte Wolke aus Sand und Staub. Erst als es wieder ruhig war, kehrte Elsa zurück.

„Wo sollen wir nun hingehen?“ Mutter und Tochter sahen sich ratlos an. „Wir haben weder Besitz noch Verwandte in der Nähe. Es sei denn, wir schließen uns dem fahrenden Volk an, ich bin ja bei ihnen aufgewachsen. Wenn ich nur wüsste, wo sie jetzt sind’’, überlegte Brunhilde halblaut. Ihre Herkunft war auch ein Grund, weshalb man sie nie anerkannt hatte in der Stadt, in die sie ihrem Mann damals gefolgt war.

Elsa erhob sich mit einem schrillen Schrei in die Luft und flog davon.

„Was hat sie denn nun schon wieder?“ Aufgeregt hielten die zwei Ausschau. Drohte erneut Gefahr? Doch es war nichts zu sehen, und so setzten sie ihren Weg fort und entfernten sich immer weiter von der Stadt.

„Schau, da ist Elsa ja wieder, und sie trägt etwas im Schnabel“, sagte die Mutter. Die Elster setzte zum Landen an und ließ einen Gegenstand auf den Sandweg fallen. Eine goldene Kette mit einem Medaillon. Brunhilde hob ihn auf und erstarrte.

„Die Kette meiner Großmutter, der Anhänger mit der Mondsichel! Das fahrende Volk muss ganz in der Nähe sein! Dort müssen wir hin, dann sind wir in Sicherheit. Elsa, wo hast du die Kette gefunden? Führe uns …“ Und der Vogel breitete langsam seine Flügel aus und stieg in die Luft.

©byChristine Erdic

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